Stephen Perls

Meine Eltern, die Gestalttherapeuten

Gedanken eines Sohnes


(c) The Gestalt Journal Press, 1998

Aus dem Amerikanischen von Ludger Firneburg

Deutsche Erstveröffentlichung in:

Gestaltkritik 1-99

Zeitschrift des Gestalt-Instituts Köln / GIK Bildungswerkstatt

http://www.gestalt.de/gestaltkritik.html


Vortrag am 23. April 1993 in Montreal anläßlich der Feier des hundertsten Geburtstages von Fritz Perls

Guten Morgen. Ich möchte Ihnen danken, daß Sie Rae und mich eingeladen und uns die Möglichkeit gegeben haben, hier bei Ihnen zu sein. So viele Leute hatte ich wirklich nicht erwartet; ich bin ein bißchen überwältigt. Ich habe mir das Programm angesehen, es sieht wirklich sehr interessant aus. Ich bin sicher, daß wir in den nächsten Tagen viel Zeit haben werden, über die vielfältigen Erscheinungsformen der Gestalttherapie zu sprechen.

Es wäre anmaßend zu glauben, ich könnte Ihnen einen qualifizierten Rückblick geben oder eine Perspektive auf die Bewegungen der Zukunft anbieten. Unter uns gibt es andere, die dazu sehr viel besser in der Lage sind. Was ich ehrlich mit Ihnen teilen kann, sind mehr persönliche Ansichten von einigen Leuten, die hinter der Entwicklung der Gestalttherapie stehen. Ich nehme an, was Sie am meisten interessiert, ist meine Beziehung zu Fritz. Warum wäre ich sonst hier?

Ja, ich bin der Sohn von Fritz und Laura Perls. Diesbezüglich habe ich keine Wahl. So ist es einfach. Zuerst möchte ich Ihnen den Hintergrund ein wenig erläutern, und dann werde ich Ihnen ein paar Reaktionen mitteilen. Geboren wurde ich 1935 in Johannesburg, Südafrika. Meine Mutter erzählte, daß Fritz mich nicht haben wollte. Wahrscheinlich ist es ziemlich erstaunlich, daß ich hier bin. Als Fritz herausfand, daß Laura mit mir schwanger war, sagte er, sie solle abtreiben. 1935 war das nicht gerade üblich, aber es gab bereits ein Kind, meine ältere Schwester Renate, und ich nehme an daß Fritz dachte, ein Kind sei genug, vielleicht sogar schon zuviel. Laura sagte nein. Früher in Holland hatte sie schon einmal abgetrieben, und sie sagte, sie würde keine zweite Abtreibung vornehmen, und daß sie das Kind auch dann bekommen würde, wenn Fritz es nicht wollte. Er sagte: "Nun, wenn du so darüber denkst." Mit anderen Worten: "Das ist deine Sache." Und so war es dann auch in den folgenden Jahren.

Meine ersten Jahre spielten sich in der gehobenen Mittelklasse der Vorstadt ab. Auch wenn das Leben meiner Eltern von dem geheimnisvollen Nimbus eines Avantgarde-Paares umgeben ist, war meine Kindheit nicht besonders außergewöhnlich. Ich spielte und machte das, was die meisten Kinder machen. Wir hatten einen großen Hof. Ich kletterte auf Bäume. An die ersten fünf Jahre erinnere ich mich nicht sehr genau. Ich glaube, in unserem ersten Haus gab es einen Swimmingpool; ich erinnere mich nicht mehr, aber ich habe gelesen, daß es das erste Haus in Südafrika war, das im Bauhaus-Stil gebaut worden war. Es war ein sehr schönes Haus damals. Es gefiel mir dort.

Woran erinnere ich mich? Es gib ein paar Dinge. 1942 ging Fritz zur südafrikanischen Armee, wo er für viereinhalb Jahre als Psychiater arbeitete. Immer wieder hörte ich ihn über die Verrücktheit des Krieges reden, denn im Ersten Weltkrieg hatte er mit den Deutschen gegen die Engländer und die anderen Verbündeten gekämpft, und im Zweiten Weltkrieg kämpfte er gegen die Deutschen. Das ist wirklich verrückt. Aber er tat, was er tun mußte, und im Zweiten Weltkrieg mußte er nicht an die Front. Er war Psychiater, und deshalb schickten sie ihn ins Krankenhaus nach Pretoria, knapp sechzig Kilometer von Johannesburg entfernt, und dort verbrachte er seine viereinhalb Jahre. Ich erinnere mich an die Knöpfe an seinem Revers, die seine Beförderung zum Captain zeigten. Diese Beförderung war eine eindrucksvolle Erfahrung und ist fest in meiner Erinnerung verankert.

Was weiß ich noch aus diesen ersten Jahren? Gelegentliche Autofahrten während der Ferien. Am Wochenende kam er manchmal vom Dienst nach Hause und wir besuchten ver-schiedene Naturschutzgebiete und Nationalparks. Ich erinnere mich noch daran, daß wir nach Umshlanga Rocks in Südafrika fuhren, ein wunderschöner Ort. Ich erinnere mich, wie mein Vater das Auto fuhr. Ich erinnere mich, wie ich aus dem Fenster schaute. Ich erinnere mich an keine einzige Unterhaltung mit ihm. Wir spielten auch keine Spiele. Wir sangen nicht während unser Ausflüge, wie Rae und ich es mit unseren Kindern gemacht haben, als wir durch die Vereinigten Staaten reisten.

[Im Publikum schreit ein Baby.] So habe ich mich auch manchmal gefühlt. [Das Publikum lacht.]

Er brauchte ein paar Strichmännchen, um etwas über Balance zu demonstrieren, über Zentrierung, aber er wußte nicht, wie man Strichmännchen malt. Er brachte mir eine kleine Schaufel mit, und ich bückte mich und blieb für ungefähr zehn Minuten in dieser Position während er sein Strichmännchen zeichnete. Meine große Errungenschaft als Kind war also, daß ich als Strichmännchen mit Schaufel in dem Buch vorkam. Das war damals einer der wenigen Augenblicke, wo er mich brauchen konnte. Es war nicht sehr dringend, aber für mich war es wichtig.

1946 ging Fritz zunächst nach Kanada und später dann nach New York. Nachdem er Südafrika verlassen hatte, machte ich Ferien in einem Zeltlager am Strand von Mosambique. Da verbrachte ich ungefähr vier Wochen, und ein halbes Jahr später zeltete ich in den Bergen bei Capetown. In Südafrika galt das englische System, und wir hatten ziemlich lange Weihnachtsferien - ungefähr vier Wochen; dafür gab es kürzere Sommerferien, also genau andersherum als in Amerika. Die Ferien dauerten etwa sechs Wochen, und es war toll, im Zelt zu leben. Es gab Zelte für ungefähr zwölf Mann. Das war eine Herausforderung und eine Wachstumserfahrung. Ich erinnere mich gerne daran zurück, es war eine gute Zeit, obwohl es auch einiges an Ungeziefer gab, das da herumkrabbelte und in unsere Schlafsäcke kroch.

Das meiste, was ich über Fritz aus den ersten zehn Jahren meines Lebens weiß, habe ich in Büchern gelesen. Laura war viel mehr da. Sie arbeitete zu Hause. Die meisten Leute haben Erinnerungen an das gemeinsame Abendessen in der Familie, oder sie erinnern sich, daß es keine gemeinsamen Mahlzeiten gab; ich kann mich nicht erinnern, ob ich mit meiner Schwester und meinen Eltern zusammen gegessen habe. Ich kann mich überhaupt an vieles nicht erinnern. Ich habe nur ein paar wenige Bilder zum Thema Essen. Woran ich mich aus diesen ersten zehn Jahren erinnere, ist mein eigenes Zimmer und die Arbeitsräume meiner Eltern.

Ich besuchte eine öffentliche Schule und spielte häufig Fußball und Cricket, wie man das in Südafrika so macht. Ich hatte eine Menge Freunde aus der Nachbarschaft, mit denen ich ziemlich viel Zeit verbrachte. Wir spielten alle möglichen Spiele zusammen: wir spielten Krieg, die Guten gegen die Bösen, wir kletterten und spielten Cowboys und Indianer, selbst in Südafrika. Der Samstagnachmittag war immer ein Ereignis, da gingen wir ins Kino, genau wie in den Vereinigten Staaten. Wir sahen Serien und so eine Art Western. Das kostete für jeden sechs Pence, was damals nicht sehr viel war.

Ich habe den Eindruck, daß ich wie Topsy aufwuchs [Topsy ist der Name eines Sklavenmädchens in Harriet Beacher Stowes "Uncle Tom's Cabin". Während sie heranwuchs, wurden ihre geistigen und emotionalen Bedürfnisse einfach vernachlässigt]. Laura hat mir erzählt, daß ich sehr an John, unserem Hausmann, hing. Als ich klein war, war ich immer in seiner Nähe. Ich weiß noch, daß ich irgendwelches Zeug mit herumschleppte, im Garten herumbuddelte und mit ihm redete. Man erzählte mir, John sei sehr still, solide und verantwortungsvoll, Worte, mit denen auch ich oft beschrieben worden bin.

1947 kamen wir in die Vereinigten Staaten, also ein Jahr nach Fritz. In New York ging ich in die Downtown Community School, eine kleine Schule in Greenwich Village. Meine Eltern arbeiteten beide zu Hause; sie hatten ihre Patienten und sprachen über Fragen der Therapie. Fritz schrieb. Manchmal traf er sich mit Paul Goodman oder Ralph Hefferline oder anderen und diskutierte mit ihnen. Ich wüßte nicht, daß ich in irgendeiner besonderen Weise daran beteiligt gewesen wäre. Sie saßen zusammen am Tisch, tranken Kaffee und plauderten miteinander. Und manchmal gingen sie rauf ins Arbeitszimmer und redeten dort weiter.

Nur ganz selten aßen alle vier Familienmitglieder zusammen. Ich erinnere mich daran, daß ich oft alleine aß - manchmal zusammen mit meiner Schwester Renate. 1949 zogen wir aus unserem Apartment in ein größeres Backsteinhaus auf der 67. Straße zwischen Amsterdam und Columbus Avenue. Damals waren wir bereits zwei Jahre im Land, und meine Eltern waren ziemlich erfolgreich, so daß sie das Haus kaufen und sich eine Köchin leisten konnten. Zumindest gab es gutes Essen. Die Haushälterin kochte an vier Tagen; Laura kochte ein bißchen -und ich auch.

Abends fanden häufig Gruppen statt. Wenn Gruppen da waren, ging ich rauf in mein Zimmer. Sie machten da ihre Sache, und abgesehen von einem gelegentlichen: "Pssst, sei leise und stör uns nicht", bekam ich nichts mit. Ich hatte wirklich keine Ahnung, was da los war. Ich wußte nicht, was in Gruppen eigentlich passierte. Was ich wußte, war, daß meine Eltern Leuten mit Problemen halfen. Ich hörte sie über ihre Arbeit reden; sie machten einen sehr engagierten und interessierten Eindruck. Aber mein Wissen reichte bei weitem nicht aus, um zu verstehen, worüber sie eigentlich sprachen. Auch erklärten sie mir nicht viel oder bezogen mich irgendwie mit ein. Ich war einfach da. Es kam mir vor, als sprächen sie ausschließlich darüber, was sie mit ihren Patienten machten oder über Kontakte zu Kollegen. Einige von den Leuten, die zu meinen Eltern kamen, waren mir gegenüber sehr nett und freundlich. Leute wie Elliot Shapiro, einer der ersten im New Yorker Institut. Er plauderte ziemlich oft mit mir. Paul Weisz, einen sehr sympathischen Mann, traf ich, als ich von der Schule zurückkam. Nach meinem ersten Jahr in der Downtown Community School wechselte ich auf New Lincoln, eine kleine Privatschule in Manhattan, wo ich von der achten bis zur zwölften Klasse blieb. Paul und ich redeten über das Wetter. Er war ganz anders als Isadore From, der einfach nickte, nach oben in sein Arbeitszimmer ging und mich ansonsten ignorierte. Paul Weisz' Frau Lottie war auch sehr nett. Aber im Grunde wurde ich ignoriert und fühlte mich vernachlässigt.

In unserem ersten Jahr in den Staaten fuhren wir im Sommer nach Provincetown - das war toll. Wir gingen viel schwimmen und machten eine Menge Ausflüge. Im darauffolgenden Sommer fuhr ich mit meiner Mutter wieder nach Provincetown, und auch diesmal war es schön. Nachdem ich dreizehn geworden war, schickte Laura mich im Sommer in Jugendcamps. Ich fuhr in ein sehr schönes Camp in der Nähe von Atlanta, Georgia, das unter der Leitung des Direktors der New Lincoln School stand. Ich hatte eine phantastische Zeit und verbrachte meine Zeit mit Kanufahren auf dem Chattahoochee Fluß.

Während meiner Highschoolzeit in New Lincoln zwischen 1948 und 1954 fiel mir auf, daß meine Eltern mit den Ansichten Freuds nicht sehr glücklich waren. Ich bin ziemlich sicher, daß das schon eine ganze Weile so gewesen sein mußte, aber zu dieser Zeit wurde ich mir dessen bewußt. Ich wußte nicht genau, worum es dabei ging, aber sie kamen mir sehr kritisch vor. Sie sprachen darüber, zu schreiben und Leute auf eine andere Weise als Therapeuten auszubilden. Mit mir sprachen sie nicht darüber, und mir brachten sie diesbezüglich auch nichts bei. Also spielte ich weiter Fußball, engagierte mich in der Schule, traf mich mit meinen Freunden und blieb manchmal am Wochenende weg. Fußball wurde für mich zu einer Leidenschaft. Eine meiner Errungenschaften machte ich in der New York City All Star Fußballmannschaft, das war eine Auswahlmannschaft verschiedener Privatschulen. 1953 wurde noch nicht so viel Fußball gespielt, aber ich empfand es trotzdem als eine Ehre. Was ich meiner Familie am meisten vorhalte, ist, daß sie sich kaum noch weniger hätten kümmern können. Keiner von ihnen hat mir jemals bei einem Fußballspiel zugesehen.

Ab und zu kamen meine Freunde zu mir, aber meistens besuchte ich sie, weil wir bei uns zuhause immer leise sein mußten. Entweder waren Gruppen im Haus oder es fanden Therapiesitzungen statt.

Mit zunehmendem Alter wurde mir klar, daß Fritz' Abwesenheit in meinem Leben nicht mit dem Krieg oder der Armee zu tun hatte, sondern damit, was ihm in seinem Leben wichtig war. Er war nicht da, weil sein Hauptinteresse der Beschäftigung mit seinen Kollegen und sonstigen Freunden galt. Wie ich schon vorher erwähnte, sagte er von Anfang an, daß er an anderen Dingen interessiert sei und kein zweites Kind wollte, und so sei es nun mal.

Nach der Highschool ging ich aufs Antioch-College, wo ich meinen Bachelor machte. Und Fritz fing an zu reisen und Leute in Gestalttherapie auszubilden. Wenn ich in den Ferien nach Hause kam, war er manchmal da, manchmal nicht. Ich wußte nie, wann ich mit ihm rechnen konnte. Daß Laura da sein würde, das wußte ich. Damals bekam ich mit, daß bei ihnen vor allem Künstler, Musiker und Therapeuten hoch im Kurs standen, und ich war sicher, daß ich nichts davon werden würde. Schon mit sechs Jahren hatte ich versucht, Geige zu lernen. Ich habe ein sehr gutes Gehör und haßte die Töne, die ich da erzeugte. Ich konnte meine physische Geschicklichkeit nicht dazu bringen, meinem Ohr zu gehorchen, also gab ich es auf, obwohl ich Musik liebe. Ich höre viel Musik und habe in mehreren Chören gesungen, u.a. im Interracial Choir in New York City und dem Antioch College-Chor. Zusammen mit Rae habe ich in der Civic Light Opera in Albuquerque in Fiddler on the Roof gesungen. Aber das beruflich zu machen, hätte für mich nicht gestimmt.

Das einzige, was meine Eltern wirklich schätzten, war der Beruf des Therapeuten; also dachte ich, daß ich vielleicht Therapeut werden sollte, um so ein bißchen Anerkennung zu bekommen, aber damals war ich mir darüber nicht richtig klar. Was ich eigentlich wollte, war Sport studieren. Ich bewarb mich an der Tufts University, wo sie einen sehr guten Studiengang anboten, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr kam es mir vor, als sei das zu viel Rebellion, und ich dachte: "Nein, ich gehe lieber nach Antioch und gukke einfach, was passiert." Im ersten Jahr wollte ich einen Abschluß in Soziologie machen, aber mit der Zeit dachte ich: "Nein, das will ich eigentlich auch nicht." In Antioch gibt es einen praxisorientierten Studiengang, und meinen ersten Job bekam ich am Illinois Institute of Technology, wo ich mit neunzehn als Psychometriker arbeitete. Sie brachten mir bei, wie man mit Hamburg-Wechsler- oder Stanford-Binet-Tests arbeitet. In diesen mehr technischen Bereichen der Psychologie war ich wirklich gut. Ich lernte, diese Dinge sehr schnell zu erledigen und dachte: "Das ist gar nicht so schlecht." Diese Erfahrung trug mit dazu bei, daß ich dann Psychologe wurde. Aber zu dieser Zeit dachte ich noch nicht daran, Therapeut zu werden.

Damals hatte noch niemand in Antioch jemals etwas über Gestalttherapie gehört. Erst 1956, als Fritz am Dayton State Hospital ein Seminar leitete, lud er mich ein, dabeizusein und teilzunehmen. Das war das erste Mal für mich. Es war das erste Mal, daß ich meine Eltern nicht nur über Gestalttherapie reden hörte, sondern, daß ich sah, wie sie funktionierte. Fritz machte ein paar kleine exzellente Arbeiten sowohl in Form von Demonstrationen mit den Teilnehmern als auch mit einigen Mitgliedern des Kollegiums. Die Teilnahme an diesem Seminar bedeutete mir viel, denn Fritz war noch nie auf mich zugekommen und hatte mich eingeladen, etwas mit ihm gemeinsam zu tun. Aber diesmal hatte er mich eingeladen. Er hatte mich nie singen hören; er hatte mir nie beim Fußball zugeschaut, und auch bei der Abschlußfeier der Highschool war er nicht dagewesen. Ich hatte also das Gefühl, daß er mich nicht wirklich kannte. Es war gut, eingeladen zu werden, um ihn zu sehen. Diese Erfahrung verschaffte mir einen Eindruck davon, was er eigentlich tat.

Ich belegte einige Seminare in klinischer Psychologie und begann zu verstehen, wie die Gestalttherapie sich in die Entwicklung der Psychotherapie nach Freud einfügte.

Dann kam Rae nach Antioch, und sowohl Fritz als auch Laura interessierten sich ein bißchen mehr für mich. Das hatte damit zu tun, daß Rae schon mit fünfzehn als Jungstudentin an der Universität in Chicago studiert hatte. Meine früheren Freundinnen hatten sie nicht sonderlich beeindruckt, aber Rae hielten sie für intelligent genug. Außerdem war klar, daß Rae als Sozialarbeiterin mit Gruppen arbeiten würde. Sie hatte mehr von einer zukünftigen Gestalttherapeutin als meine Schwester oder ich. Und so lebte das elterliche Interesse der Perls wieder auf.

Im Laufe der Jahre ergab es sich, daß Raes Hochschulbildung und ihre Teilnahme an Fritz' Seminaren sein Interesse anregten; er kam uns jetzt öfter besuchen, erkundigte sich nach seinen Enkeln und wurde mehr und mehr zu Raes Mentor. Vielleicht trifft dieser Begriff nicht ganz, aber er spielte eine Art aristotelischen Gestalt-Guru in unserem Wohnzimmer. Er kam zu Besuch, redete und erklärte. Anders als Laura, die bei ihren Besuchen meistens von früher erzählte, machte Fritz intensive Kurzzeit-Trainings - getarnt als väterliche Besuche.

Bei zwei angehenden Psychologen mit Namen Perls versuchte Fritz eine kurze Zeit lang verzweifelt, uns beruflich zu beeinflussen - selbst aus der Entfernung. Er lud uns ein, ihm zuzusehen. Diese Galavorstellungen paßten uns nicht, und wir nahmen immer weniger Einladungen an. Als Rae ihm von ihrem Fortgeschrittenentraining erzählte, tat er es ab und drängte sie, an seinen Trainings teilzunehmen. Wir lehnten diese Art von Kontakt mit ihm weiterhin ab. Die letzten paar Jahre mit ihm waren alles in allem eine ziemlich zerrige Erfahrung. Er sagte: "Kommt und schaut mir zu." Und ich antwortete - wenn auch nicht so deutlich, wie ich es inzwischen gelernt habe - "Warum soll ich Dir zusehen. Du bist doch auch nie gekommen, um mir zuzusehen." Ich glaube, das war die Dynamik, die damals dahintersteckte. Er machte seins und ich machte meins. Ich glaube wir haben beide einiges ausgelassen.

Eigentlich hatte Fritz mehr Kontakt mit Rae als mit mir. Das Konzept der Familiendynamik, das den meisten von uns heute vertraut ist, kannte er nicht. Wo es um Familienbeziehungen ging, hatte er einen blinden Fleck. Erst als ich ungefähr dreißig war, fing er an, mich als eigenständiges Wesen zu betrachten, das unabhängig von meiner Schwester und meiner Mutter auftrat. Es gab vieles, das er mit mir hätte teilen können, wenn er es früher in seinem Leben für wertvoll erachtet hätte. Und ich hätte viel von ihm lernen können, wenn ich nachgefragt hätte. Aber ich fragte nicht, und er bot es mir nicht an. Wir kamen nicht zusammen.

Ich zeichne Ihnen hier nicht das Bild eines Helden, dessen hundertsten Geburtstag wir feiern. Ich möchte dazu anregen, ihn für seine außergewöhnlichen beruflichen Fähigkeiten zu ehren. Mehr als jeder andere würde er es ablehnen, daß wir große Reden darüber halten, was für ein hervorragender Mann er war. Er tat, was er tun wollte, und das außerordentlich gut. Das ist eigentlich alles.

[Applaus]

Ich stehe Ihnen gerne für Fragen, Reaktionen und Anmerkungen zur Verfügung und werde so klar wie möglich antworten. Ich habe darüber nachgedacht, welche Fragen man mir in all den Jahren gestellt hat. "Wie ist das, der Sohn von Fritz Perls zu sein?" Oder: "Wie ist es, der Sohn einer berühmten Persönlichkeit zu sein?" Diese Fragen habe ich hunderte Male gehört, und ich gebe immer dieselbe Antwort: Als ich heranwuchs, wußte ich nicht, wie es ist, der Sohn eines berühmten Menschen zu sein, denn damals war er noch nicht berühmt. Als er bekannt wurde und sich einen Namen machte - während der Zeit in Esalen - war ich über dreißig; das war Mitte bis Ende der Sechziger.

Mann:

Sie erwähnten, daß Sie Fritz' Versuch, Sie auszubilden, ablehnten. Mich interessiert, welche Ausbildung Sie dann gemacht haben und wie Sie arbeiten.

Stephen Perls:

Wie ich schon sagte, machte ich meinen Bachelor in Psychologie in Antioch. Danach ging ich zur Universität in Chicago, wo ich im Pädagogisch-Psychologischen Institut arbeitete und einen Abschluß als Master in pädagogischer Psychologie machte. Ich arbeitete mit Herb Thelen, der mein Hauptmentor wurde. Manche von Ihnen haben vielleicht von Herb gehört. Er war kein Psychotherapeut, sondern ein Gruppendynamiker und einer der Gründer des National Training Laboratory. Er lenkte mein Interesse auf die Arbeit mit Gruppen. Später ging ich dann zur Universität von Eugene in Oregon, wo ich einen Abschluß in psychologischer Beratung machte und promovierte.

Ich gehe noch einen Schritt zurück. Der Grund, warum ich in Chicago nicht promovierte, war ein Mann, nicht Herb Thelen, den ich für sehr bewundernswert und exzellent hielt. Der Grund dafür, daß ich in Chicago nicht promovierte war Bruno Bettelheim. Einige von Ihnen haben in den letzten Jahren von Bruno gehört und gelesen. Für mich war er die ausgleichende Gerechtigkeit. Ich hatte Schwierigkeiten mit psychoanalytischer Therapie. Daß ich von meinen Eltern gehört hatte, wie unangemessen, unzulänglich und dumm verschiedene Aspekte der psychoanalytischen Theorie seien, trug wahrscheinlich dazu bei, daß ich einfach nicht in der Lage war, sie wirklich zu schlucken und in der Prüfung wieder auszuspucken. Da ich nach Brunos Ansicht nicht gut genug war, machte er seinen Einfluß geltend, so daß ich den Doktortitel nicht bekam.

Also ging ich nach Oregon und bekam meinen Doktor sehr schnell. Da wir zwei Kinder hatten, die beide unter asthmatischen und allergischen Reaktionen litten, entschlossen wir uns, in den Südwesten zu gehen. Wir zogen nach Albuquerque und ich bekam eine Stelle als Psychologe in der Lovelace-Klinik. Lovelace ist so eine Art Miniaturausgabe der Mayo-Klinik. Ich arbeitete als Psychologe in der Rehabilitation, und der Mann der mich einstellte, war Larry Bloomberg, ein Gestalttherapeut. Einige von Ihnen kennen Larry Bloomberg vielleicht. Er war leitender Psychologe an der Lovelace-Klinik; es gab also eine Verbindung zur Gestalttherapie. Für diejenigen von Ihnen, die ihn nicht kennen: Er machte seine Ausbildung bei Laura und arbeitete viel mit ihr zusammen, bevor er dann für ein paar Jahre nach Albuquerque ging. Schließlich verließ er Albuquerque und ging nach Italien, wo er jetzt sein eigenes Institut hat. In den ersten zwei Jahren nach meiner Promotion war er mein Supervisor; ich hatte also eine sehr gestaltorientierte Supervision. Ich lernte Paar- und Gruppentherapie im Rahmen des Gestaltansatzes. Als Larry fortging, beschloß ich, daß ich genug von Lovelace und den Ärzten hatte, die es für wichtig halten, einen Psychologen zu konsultieren.

Am Albuquerque Women's Job Corps Center wurde eine Stelle frei. Das ist ein Zentrum für Frauen zwischen 16 und 21 Jahren, die aus finanziell schwachen Verhältnissen kommen, mit etwa 400 Mitarbeitern. Ich wurde Direktor des Beratungs- und des Wohnprogramms und supervidierte sechs Berater und 30 Hauseltern. Ich war mit der Programmentwicklung betraut, machte psychologische Evaluation und einige Beratungen. Das lief drei Jahre. Es war eine sehr intensive Erfahrung, vor allem die Wochenenden, wenn die Leute vom Men's Corps Center, das etwa 50 Meilen außerhalb lag, drei Busladungen mit Männern bei uns abluden (das war Freitagsabends) und einfach meinten: "Wir holen euch Sonntagabend wieder ab." Ich mußte mich mit den ungeklärten Fragen vieler junger Männer auseinandersetzen, die herumstreunten und versuchten, die Frauen zu verführen, sich schlugen und all das.

Nach ein paar Jahren entschloß ich mich, eine Stelle in der psychiatrischen Abteilung der University of New Mexico anzunehmen, wo ein Hilfeprogramm entwickelt wurde. Als Direktor des Human Services Program entwickelte ich einen associate of arts Studiengang. Wahrscheinlich gibt es in den Vereinigten Staaten nur zwei Studiengänge, in denen dieser Titel von einer psychiatrischen Abteilung angeboten wird. So habe ich also viele Menschen im psychiatrischen und sozialarbeiterischen Bereich ausgebildet und Seminare zu Themen der Familiendynamik, der Beratungsmethodik und der Gruppendynamik durchgeführt.

Langsam aber sicher begann ich, mich mehr für Gruppentherapie als für die Erforschung von Gruppenprozessen zu interessieren, die ich an der Universität in Chicago betrieben hatte. Als Gruppentherapeut habe ich sowohl ein starkes Interesse entwickelt als auch einiges an Fachkenntnissen erworben. Ich bin Mitglied der American Group Therapy Association, mit der ich seit über 20 Jahren zusammenarbeite. Mit dieser Organisation identifiziere ich mich mehr als mit jeder anderen. Ich nenne mich nicht Gestalttherapeut und habe in dieser Richtung nie eine formale Ausbildung gemacht. Ich habe viele kleine Workshops bei Erv und Miriam Polster, Jim Simkin und Irma Lee Sheperd gemacht - und mit einigen anderen, die nicht im engeren Sinne mit der Gestalttherapiebewegung zu tun haben: Bob Goulding und John O'Hearn zum Beispiel. Ich würde sagen, daß ich ein ansehnliches Maß an Training hinter mir habe, aber ich betrachte mich nicht als den Gestalttherapeuten. Ich hasse diese Klassifizierungen, weil ich glaube, daß mein Ansatz ein eher eklektischer ist, aber wenn ich mir einen Namen geben müßte, würde ich mich wohl als erfahrungs- und systemorientierten Therapeuten bezeichnen.

Mann:

Ihre Rede hat mich sehr bewegt, Stephen. Ihre Geschichte hat Ähnlichkeit mit der vieler Männer, und sicherlich mit meiner eigenen Beziehung zu meinem Vater. Ich arbeite mit Männern, und in der Arbeit mit meinem eigenen Vater hat sich im Laufe der Zeit eine Überzeugung eingestellt: daß ich nämlich meinen Vater nicht verstehen konnte, ohne zurückzugehen, um seinen Vater zu verstehen. Ich weiß nichts über den Vater Ihres Vaters, und ich frage mich, ob das überhaupt ins Spiel kommt. Hatten Sie Kontakt zu Ihren Großeltern?

Stephen Perls:

1938, ich war drei Jahre alt, kam meine Großmutter aus Deutschland, um uns in Südafrika zu besuchen. Meine Eltern wollten, daß sie blieb, aber sie bestand darauf dahin zurückzugehen, wo sie lebte. Sie ging zurück und endete in einem Konzentrationslager. Keiner von meinen Großeltern überlebte, und ich habe sie nie getroffen. Ich kann mich auch nicht erinnern, daß in meiner Familie je viel über sie erzählt wurde.

Mein Großvater väterlicherseits war einfach ... was war er? Taxifahrer? Jedenfalls kam er nicht aus diesem professionellen Bereich. Meine Großeltern mütterlicherseits waren Juweliere, sehr erfolgreiche Juweliere.

Mann:

Ich habe zwei Reaktionen auf Ihren Vortrag. Zum einen glaube ich, daß jede Theorie eine stark autobiographische Komponente hat, egal wie wissenschaftlich oder metaphysisch oder was auch immer sie sein mag. Wenn ich Sie über Ihre Beziehung zu Fritz reden höre, verstehe ich glaube ich ein bißchen besser, warum die Gestalttherapie in der ersten Zeit Fragen der Intimität mit anderen ausließ und warum nicht die Gemeinschaft und die Verbindung, sondern das starke Individuum so hochgehalten wurde. Und das zeigt vielleicht auch, warum es so wichtig ist, daß eine Theorie von vielen Leuten weiterentwickelt werden muß und nicht bloß das Ergebnis der Überlegungen eines einzelnen sein sollte.

Stephen Perls:

Ich stimme Ihnen zu; Sie haben das gut ausgedrückt. Aus diesem Grund hat er keine Paartherapie gemacht. Ich glaube nicht, daß er es verstand, anderen auf gleicher Ebene zu begegnen.

Frau:

In diesem Zusammenhang würde ich gern wissen, ob Sie etwas darüber sagen können, wie Sie die Grenzen der Gestalttheorie mit den persönlichen Grenzen Ihres Vaters in Verbindung bringen.

Stephen Perls:

Ich glaube, daß diese letzte Bemerkung den Punkt trifft. Fritz war sicherlich, ebenso wie Laura, sehr stark darin, Kontakt herzustellen, aber das schien eine ganz bestimmte Art von Kontakt zu sein. Da ich mich selbst mehr als erfahrungs- und systemorientiert betrachte, versuche ich wirklich, mich dem weiten Spektrum der Möglichkeiten in Familienfragen und Fragen von intrapersoneller und personeller Gemeinschaften usw. zuzuwenden. Die Gemeinschaft beschäftigt mich sehr stark. Während der letzten 15 oder 20 Jahre habe ich an der University of New Mexico im Bereich der Psychiatrie sowohl mit stationären als auch mit ambulanten Patienten gearbeitet. Ich glaube, daß die frühe Gestalttherapie in dieser Hinsicht deutlich ihre Grenzen hatte.

Ich sehe gerade, daß wir keine Zeit mehr haben. Ich danke Ihnen allen. [Applaus]


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